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14.12.2021 Tirol

End­sta­ti­on Sehn­sucht?

Sehnsucht

Als Enkelin einer finnischen „Gemeindeschwester“ (heute: community nurse), Tochter einer DGKP, die bis einen Monat vor ihrem Tod selbstbestimmt in einer betreuten Wohnung lebte und als eine in Gesundheitsförderung und Prävention tätige Diätologin und Psychologin darf ich ein paar Gedanken zum Thema Altern in Würde beisteuern.

Über das Altwerden

Die politische Diskussion bietet einen Dauer-Alarmismus, als ob die demographische Entwicklung nicht schon lange bekannt wäre. Menschen werden alt – zum Glück. An dieser Stelle könnte man über unterschiedliche Lebenserwartungen verschiedener sozialer Gruppen nachdenken – der Unterschied zwischen Wien erster Bezirk und Favoriten beträgt z.B. fünf Jahre.

 

Ab wann ist man eigentlich alt? In der Diätologie spricht man davon, dass es etwa ab der Mitte 50 zu Veränderungen in der Verdauungsleistung kommt. Das heißt, dass viele, die nach außen jugendlich erscheinen und top trainiert sind, eigentlich schon den „Seniorenteller“ im Gasthaus bestellen könnten. Tun sie aber nicht. Weil alle bekanntlich alt werden wollen, aber nicht alt sein. Perspektivisch und idealistisch betrachtet ist das Alter die Krönung des Lebens, in der Realität oft eine defizitäre Angelegenheit. In der neoliberalen Denke geht es um die Verwaltung einer Konkursmasse nicht mehr im Arbeitsmarkt brauchbarer Exemplare der Spezies. Was früher das gefürchtete „Armenhaus“ war, wurde in den Wirtschaftswunderjahren zum regionalen Seniorenheim, deren laufende Eröffnungen sehr bürgermeistertauglich in Bezug auf die Durchschneidung von Eröffnungsbändern waren und immer noch sind.

 

Unsere Seniorenheime sind längst nicht mehr die “Armenhäuser” von früher. Im Gegenteil, die baulichen Gegebenheiten, die Verpflegung mit Menüwahl usw. werden vielfach auch gelobt und viele Heime bemühen sich, zum Gemeindeleben beizutragen und das Heim zu einem Ort der Begegnung zu machen. Aber noch einmal: wer mit 70, 80 Jahren in ein Heim übersiedelt und nicht zu den 63% Demenzerkrankten gehört, die heute die Bewohner*innenschaft ausmachen, ist vermutlich das erste Mal in seinem Leben in einer Wohngemeinschaft, hat nicht immer die sozialen Kompetenzen, um Angebote wie Tanzen, Basteln usw. anzunehmen – oft auch nicht den Wunsch danach, wenn die Depressivität zunimmt. Und wenn die Ressourcen, sprich eine ausreichende Anzahl an fair bezahlten und motivierten Pflegekräften nicht vorhanden sind, dann erleben wir das, was in Deutschland die “Satt & Sauber – Pflege” genannt wird. Besser satt und sauber als hungrig und im Dreck, aber kann das der Stein der Weisheit in den reichsten Ländern der Welt sein?

 

Altern kann geistig und körperlich schmerzvoll sein, der Alltag eine Mühsal. Aus der Public Health – Forschung weiß man jedoch: je gelungener das Leben, je besser die Herausforderungen bewältigt wurden, desto besser verläuft der letzte Lebensabschnitt. Auf ein langweiliges Leben folgt in der Regel ein langweiliges Altern, da kann man schon depressiv werden und sich von der Welt abwenden. Da nützen auch der Senior*innenausflug und die lustige Bastelstunde im Heim nichts.

 

Heute hat sich herumgesprochen, dass es schlau ist, eine Wohnung oder ein Haus altersgerecht vorauszuplanen – so die Möglichkeiten dazu gegeben sind. Aber nicht nur bauliche Maßnahmen können und sollen vorausschauend geplant werden, sondern der gesamte Lebensabschnitt. Der Mensch als bio-psycho-soziales Wesen kann sich grundsätzlich sein Leben lang verändern und eine für ihn positive Entwicklung einschlagen, aber er braucht die Möglichkeiten und Chancen dazu. Ob Bewegung, Ernährung, die innere Einstellung – es braucht Angebote, damit Menschen sich selbst befähigen können, ihr Leben bis zuletzt freud- und sinnvoll zu gestalten. Im Konsumkapitalismus gilt nur das Konsumieren – oft als „Genuss“ getarnt. Der individuelle Sinn, die Selbst- und Welterkenntnis sind aber nicht käuflich.

 

Pflegebedürftigkeit ist kein unausweichliches Schicksal. Richtet man den Blick auf Demenzerkrankungen, deren Häufigkeit in österreichischen Alten- und Pflegeheimen bis zu zwei Drittel beträgt, ist festzuhalten, dass zwei Drittel der Risikofaktoren nicht beeinflussbar sind – ein Drittel jedoch sehr wohl. Die Prävention beginnt in der Kindheit und Jugend, wie folgende Grafik in einer IHS-Publikation zeigt (siehe Bild unten).

 

Die Neurowissenschaften fassen die günstigen und ungünstigen Veränderbarkeiten des menschlichen Gehirns wohl recht drastisch, aber aus naturwissenschaftlicher Sicht sehr eindeutig zusammen: use it, or loose it. Und daraus ergibt sich schon der politische Auftrag: wer als Kind zu wenige Bildungschancen hatte, wer ein Leben unter Dauerstress führen muss – Stichwort working poor – der oder die wird sich kaum auf ein freudvolles, aktives und sozial eingebundenes Altern freuen können. Im Pflegeheim dann mit einem Sprachkurs zu beginnen, wird unrealistisch sein. Wer ein Leben lang funktionieren musste und dessen Bedürfnisse nie wahrgenommen wurden, wird sich eher in die passive Rolle begeben und froh sein, Verantwortung abgeben zu können. Die öffentliche Gesundheit fordert diese Verantwortungsübernahme, gibt den Menschen aber von Kindheit an nicht die nötigen Ressourcen dafür. Was das “gesund leben” betrifft, habe ich Patient*innen immer gesagt: schenkt eure Pension nicht her, schaut auf euch, damit ihr nicht krank werdet, wenn der Stress endlich vorbei ist und ihr in Pension gehen könnt.“

 

Der Anteil der „gesunden Lebensjahre“ ist in Österreich bei gleicher Lebenserwartung niedriger als in den meisten OECD-Ländern. Eine Präventionsmöglichkeit für die heutige „mittlere Generation“ ist der bewusste Umgang mit Internet, sozialen Medien und anderen suchterzeugenden Verhaltensweisen. Das Gehirn braucht Mußezeiten, ausreichenden Schlaf neben anregenden Tätigkeiten und bereits in dieser Lebensphase Gedächtnistraining. Das alles reicht aber nicht, wenn der Sinn und das Glück fehlen. Dafür kann die Politik nur Rahmenbedingungen schaffen – von der Bildungs- und Gleichstellungspolitik bis zur Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Bildunterschrift: aus „Prävention der Pflegebedürftigkeit“ aus der Schriftenreihe Health System Watch.
Petra Wohlfahrtstätter
Petra Wohlfahrtstätter

Stv. Landessprecherin der Grünen Tirol

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